Michael Helm

Weil es die Schönheit ist…

vom 01. Dezember 2016

Im Internet hörte ich von einem Geiger, der in einer Fußgängerzone sein Bestes gab. Tausend Menschen gingen vorüber, zwanzig warfen ihm Geld in den Geigenkoffer und sechs Menschen blieben kurz, um ihm zuzuhören. Ein kleiner Junge soll reges Interesse gezeigt haben, doch die Mama zog ihn weiter. Der Geiger war eine Weltberühmtheit. Er spielte wundervolle klassische Stücke von Johann Sebastian Bach, noch dazu auf einer Geige, die dreieinhalb Millionen Dollar wert gewesen sein soll. Noch am Tag vorher soll er ein Konzert gegeben haben, bei dem die Zuhörer hundert Dollar für eine Karte gezahlt hatten. Die Geschichte soll ein Experiment der Washington Post gewesen sein und ich hörte davon durch ein „Wort zum Tage“ des MDR, in einer Art Radioansprache, gesprochen von Christian Mendt.

Ich habe die Geschichte nicht weiter recherchiert. Sie gehört zu den Dingen, die man täglich auf Sozialen Netzwerken findet. Manche anregend, manche weniger. Manche sind pure Erfindung. Bei dieser Geschichte ist es egal, ob es so war oder nicht, weil sie auch gut bleibt, wenn sie ausgedacht wäre. Das ist das Wesen einer guten Geschichte. Wie Herrn Mendt brachte sie mich zum Grübeln. Wir hatten sehr unterschiedliche Gedanken. Spannend genug.

Ich dachte jedenfalls, ob mehr Menschen stehen geblieben wären, wenn dort ein Populist von der Schlechtigkeit der Welt in unseren Tagen gepoltert hätte. Wenn er in Rage alles Mögliche beklagt hätte, Wahres aber auch einfach viel Erfundenes. Behaupten kann man ja vieles. Wie viele Menschen hätten dann dagestanden und zumindest innerlich gerufen: „Ja, ja… man wird doch mal wieder… und endlich sagt es mal einer!“

Das Geschreie zeigt oft mehr Wirkung, als die leisen und schönen Töne, die dieser Geiger wahrscheinlich hervorzauberte. Die Schönheit fällt uns im Stress, in unserem hecktischen Alltag nicht mehr auf. Das Gute und Schöne braucht oft einen zweiten Blick. Dass wir genauer hinhören, zuhören.

Vor den Populisten mit ihrem lauten Gekreisch graut es mir. Dass niemand applaudierte, als der Violinist sein Straßenkonzert beendet hatte, finde ich schade. Im Zusammenhang dieser beiden Gedanken fällt mir ein Zitat Friedrich Schillers ein: „Weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.“ Er schrieb den Satz in einem Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen. Ob wir auf dem Weg der Freiheit sind, wenn wir uns den Schreihälsen anvertrauen, wird sich zeigen müssen. Ich bezweifle das. Vielleicht achte ich in Zukunft einmal mehr auf die Musik in den Straßen, besonders jetzt, im Lärm der Weihnachtsmärkte.

mh

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