Michael Helm

Engel der Autobahn

vom 27. August 2023

„Ich drehe schon seit Stunden
Hier so meine Runden (…)
Ich finde keinen Parkplatz
Ich komm‘ zu spät zu dir, mein Schatz“

Das schrieb schon Herbert Grönemeyer in seinem Lied „Mambo“. Ich weiß nicht, ob Grönemeyer in den 80ern danach Drohbriefe von Autojunkies bekam oder zur Anhörung vor den Automobilgerichtshof bestellt wurde, aber ich ahnte damals schon nichts Gutes. Die Parkplatzsuche gestaltete sich in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Bochum schon nicht einfach und hat sich seither verschlechtert.

„Es trommeln die Motoren. 
Es dröhnt in meinen Ohren“

Stimmt immer noch, auch wenn die Motoren eigentlich leiser geworden sind. Vielleicht sind es einfach mehr oder meine Ohren sind empfindlicher geworden. 

Neulich, stand ich auf der A2. Die Motoren waren verstummt. Nur das Rauschen der Gegenfahrbahn war zu hören. Vollsperrung. In meinem Fahrzeug war es so ruhig geworden, dass ich aus Langeweile das Radio einschaltete. Da gab es eine Gesprächsrunde über die richtigen Methoden des Grasschnitts im heimischen Garten und etliche Zuhörer*innen, die anriefen, weil sie dazu etwas zu sagen hatten. Ein anderer Sender versprach die nächste welterschütternde Krise. Nichts sagte mir die Musik auf allen Sendern, die ich durchzappte. Also Radio aus. Mein Fahrzeug ist alt und daher hat es keine Möglichkeit, mir Musik auf andere Weise wiederzugeben. Ich kam mir jetzt genauso alt vor wie das Radiogerät. Alt und weiß.

Es war eng. Es war warm. Die Beine wussten nicht wohin und meine Waden fingen an, im eigenen Rhythmus rastlos zu zittern. Ich zählte die Fahrzeuge vor und hinter mir, die ich gerade noch erkennen konnte, immer und immer wieder. Zählen beruhigt mich. Es müssen ja nicht gleich Schafe sein. 

Wäre ich bloß mit meinem ICE gefahren, dachte ich. Ich hätte mir die Beine vertreten und mit meinen Sitznachbarn über die aberwitzigen Bahndurchsagen diskutieren können. Hält der Zug nun in Bielfeld, fährt er mit einstündiger Verspätung weiter nach Köln, dreht er um und fährt zurück nach Berlin oder entfällt der Halt in Bielefeld ganz. Wenn der Zug ausfällt, fällt er dann auf Gleis 2 oder Gleis 4 aus? Muss man doch wissen. Wir hätten uns jedenfalls lachend gegenseitig am Galgen des Humors aufgeknüpft. Immer noch besser, als vereinsamt in meiner Blechkabine auf der Autobahn an Langeweile einzugehen.

Wie ich nach Hause gekommen bin? Ich habe den Wagen auf der A2 stehengelassen, habe die Kennzeichen entfernt und entsorgt und bin zum nächsten Bahnhof gelaufen. Der Zug fuhr, aber zurück nach Berlin. Eine Bahnhofsbank gewährte mir die nötige Nachtruhe in der Hauptstadt. Im Traum erschien mir ein Engel. Er nannte sich Verkehrsminister und sprach vom Himmelreich auf Straßen und Schienen. 

Schweißgebadet erwache ich zu Hause im Bett. Wie ich nach Hause gekommen war? Ich weiß es nicht zu erzählen. Ich bin angekommen, wahrscheinlich dank eines Schutzengels der Deutschen Autobahnen, bewehrt mit Schild und Barke.

Warum trinke ich Tee?

vom 24. August 2023

Banaler geht´s nicht mehr, oder?

Vor Jahren habe ich mir eine andere banale Frage gestellt. Warum trinke ich überhaupt täglich meinen Kaffee? Ich wunderte mich selbst über die Frage, zwang mich aber zu einer Antwort. Ich hatte keine, die mich überzeugt hätte. Koffein? Wirkt nicht so richtig bei mir. Ich kann abends Kaffee trinken und gut danach schlafen. Der Geschmack? Ich finde ihn sogar ekelig. Das war mir vorher nie aufgefallen. Warum eigentlich nicht? Gewohnheit? Eine erhellende Antwort. Irgendwann schaut man sich etwas ab und behält es bei, weil es andere auch tun.

Die Antwort hatte Konsequenzen. Ich versuchte es mit Tee. Schwarzen Tee kannte ich aus meiner Kindheit. Wenn ich krank war, trank ich Kamillenblütentee oder dieses tief bittere, schwarze Gesöff, auf dem ein schimmernder Film schon meinen Ekel erregte. Der nächste Gedanke: Zwieback. Dann: Erbrechen. Keine hilfreiche Assoziationskette.

Durch Zufall stieß mich eine Händlerin auf grünen Tee. Weil ich mit dieser Teefrau so gern über die verschiedenen Sorten, die Gewinnung, die Herkunftsländer und die Zubereitung sprach, bin ich bei meinem täglichen, japanischen Sencha hängen geblieben. Eine bewusste Entscheidung. Vielleicht. Oder einfach das gute Gefühl, gerne mit einem Menschen zu sprechen, der sich an dieselbe Leidenschaft gewöhnt hat. Die Teefrau will mir in ihrem kleinen Laden nicht aus dem Kopf. Sie ist wie eine angenehme Erinnerung, hinterlässt ein gutes Gefühl in mir.

Grüner Tee ist fantastisch. Er schmeckt und belebt mich.
Wohl bekomm´s.

Jason Lutes – Berlin

vom 22. August 2023

Manche Bücher brauchen ihr Zeit. Keine neue Erkenntnis. „Berlin“ von Jason Lutes steht schon zu lange in meiner Graphic-Novel-Ecke, sodass ich mich an den Anblick des ungelesenen Mammuts schon zu gewöhnen begann. Comics sind Heftchen? Falsch. Dieser Comic ist ein Mammut von einem Buch. Ein Opus Magnum, wie ein Kritiker schrieb.

Begonnen hat es der amerikanische Zeichner Jason Lutes Mitte der 1990er. Eine Trilogie ist es geworden, die in meinem Buch in vereinter Form in Deutsch herausgegeben vorliegt. Über zwanzig Jahre hat er an allen drei Bänden gezeichnet. Lutes´ Geschichte beginnt im Berlin 1928 und endet 1933.

Ist es da ein Wunder, dass ich das dicke Mammut gerade jetzt aus dem Regal ziehe? Wieder einmal in Berlin gewesen, gerade vorher noch in Weimar. Aber gerade dann fällt mein Blick auf die eine Stelle im Regal? Das Schicksal sollte ich vielleicht nicht gleich bemühen, eher die Irrungen und Wirrungen eines Gehirns, das den geraden Weg verabscheut.

Die Weimarer Republik rückte nicht nur in Weimar immer wieder in meinen Fokus der letzten Zeit. Der Untergang unserer ersten Demokratie in Deutschland. Nicht an ihren Kinderkrankheiten eingegangen, von den Nationalsozialisten zerstört, habe ich gerade noch in der Ausstellung zur Weimarer Republik gehört und gelesen. Im Anbetracht der Tatsache, dass sich so viele Menschen wieder einen scheinbar starken, diktatorischen aber doch menschenverachtenden Staat zu wünschen scheinen, ist der Blick auf die letzten Jahre dieser Republik verständlich.

Ich bin kein Comic-Kenner. Die Zeichnungen Lutes sollen in einer europäischen Tradition stehen. Schwarz-weiß gezeichnet, in ruhigen Bildern mit klaren Konturen. Nicht actionlastig. Sie scheinen mir eher eine Stimmung wiederzugeben, als eine dynamische Handlungsabfolge. Es ist die Stimmung der späten 1920er, die mich interessiert. Und der ungewöhnliche historische Blick eines amerikanischen Zeichners auf diese vergangene, bedeutsame Zeit im Berlin, das ich im Moment so gegenwärtig vor Augen habe. Hier verwirren sich auf einmal so viele Motivationsfäden.

Kommt hinzu, dass mir Kurt Severing, die Figur gleich zu Beginn, so vertraut vorkommt. Fiebrig schlage ich nach: Kann doch nur Kurt Tucholsky gemeint sein, der gleich einem gewissen Joachim Ringelnatz in die Arme läuft. Na wenn ich da nicht gleich weiterlese, … sorry, schaue …

Ende einer Reise

vom 20. August 2023

Weimar – Berlin – Rheinsberg – Potsdam.

In Weimar fühle ich mich immer wie zu Hause. Weimar ist für mich kulturelle Erholung. Spaziergänge an der Ilm, Anregungen in den Geschichts- und Dichtermuseen, Pausen in den Kaffees. Berlin ist aufregend, hinter jeder Straßenkreuzung eine neue Erfahrung, ein neuer Gedanke, ein neues Bild. Theater, Kunstmuseen, Straßenevents. Menschen. Menschen. Menschen. Rheinsberg war eine neue Erfahrung. Abgeschieden, erholsam, aber etwas vom Schuss. Ein Tucholsky-Museum gehört nach Berlin. Der Mann hat mehr geschrieben, als Rheinsberg. Tucholsky hat sich eingemischt in die Angelegenheiten der jungen deutschen Republik, in die Berliner Angelegenheiten. Das geht uns gerade jetzt etwas an. Und Potsdam lebt von seinen Schlössern, auf die ich gern verzichten kann. Ja, ja, Architektur und Kunstgeschichte. Macht mal. Potsdam war für mich Filmabende und Filmmuseum, das Haus der Wannseekonferenz und das Holländische Viertel. Man ist zügig wieder im Theater in Berlin. Ich liebe Städte, aus denen man auch schnell einmal weg, das heißt ganz woanders ist. Nichts ist so schön, als sich wieder etwas Neues anzuschauen oder etwas Altes neu zu entdecken.

Potsdam – Ein Reiserückblick

vom 19. August 2023

Kino. Kino. Kino.

An drei Abenden ins Kino. Das haben wir lange nicht mehr gemacht. Thalia, das ist in Potsdam keine Muse, das ist auch keine Bücherkette, das ist in Babelsberg ein traditionsreiches Kino mit angeschlossener Wohlfühlbar. Drei Kinoabende: „Indiana Jones“ erinnerte mich an alte Hollywoodstreifen und solch ein Abend gehört irgendwie in einen Sommerurlaub. „Die Unschärferelation der Liebe“ mit Caroline Peters und Burghart Klaussner ist ein wunderbarer Film, dessen Geschichte wir in gleicher Besetzung schon auf den Bühnenbrettern in Düsseldorf gesehen hatten. Sehenswert. Und „Alma & Oskar“, über die tragische Liebesgeschichte Alma Mahlers mit Oskar Kokoschka, ließ sich auch gut anschauen.

Ja, und dann gibt’s natürlich den ganzen Tratsch über die Filmstadt Babelsberg. Den erfährt man selbstverständlich im Filmmuseum sehr schön aufbereitet. Von Fritz Lang bis Tarantino. Da fehlt einem nichts. Die Geschichte der Filmstudios vor und im Nationalsozialismus, in der DDR und bis heute.

Da habe ich mir vorgenommen, das alte Kino nicht länger so sträflich zu vernachlässigen, wie in den vergangenen Jahren.

Potsdam – Ein Reiserückblick

vom 17. August 2023

Ambivalenzen einer Reise.

Die Ausstellung im „Haus der Wannseekonferenz“ ist einfach gemacht, aber überzeugend. Klar strukturiert. Gut für Schüler*innen und Leute, die sich beginnen, mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Es gibt das Haus am Wannsee, mit idyllischer Aussicht, von dem man weiß, dass hier die Konferenz stattfand, in der die sogenannte „Endlösung“ besprochen wurde. Es gibt das Protokoll, verfasst in einem nüchternen Ton. Die Sachlichkeit des Mordes: Zahlen und bürokratische Formulierungen. Das Wort Mord kommt nicht vor. Das Schicksal von Menschen verschwindet zwischen den Zeilen.

Verärgert darüber, wie lange es gedauert hat, die Ausstellung dort einzurichten. Ein Überlebender musste sein ganzes Leben nach Auschwitz dafür kämpfen und hat die Ausstellungseröffnung nicht mehr erlebt.

Potsdam – Ein Reiserückblick

vom 16. August 2023

„La Maison Du Chocolat“. Schon der Name ein Genuss. Café im Holländischen Viertel. Leckere Schokolade. Leckerer Flammkuchen.

°°°

Die ruhige Ferienwohnung mit dem schönen Balkon, auf dem wir jeden Abend mittelmäßigen Wein getrunken haben, der uns früher einmal geschmeckt hatte.

°°°

Das Barberini. Tolle Impressionisten, vor allem die mir noch unbekannten Monets und dann der Schlussraum mit den Seerosen …

°°°

Schloss Sanssouci. Naja. 
Die Gewächshäuser im Botanischen Garten des Schlosses. Ganz wunderbar.

°°°

Einen ganzen Tag im Filmmuseum Babelsberg. Spannende Episoden aus der Filmgerüchteküche. In der Pause gab’s im Restaurant vor dem Haus sehr leckeren Matchatee. Wunderherrlich!

Potsdam – Ein Reiserückblick

vom 15. August 2023

Das ist mein Potsdambild. Nicht wieder ein Luxusschloss. (Und Sanssouci ist noch schlimmer als das Schloss in Rheinsberg.) Nicht irgendwelche Sehenswürdigkeiten, die auf der städtischen Internetseite gelistet stehen. Nichts Kulinarisches, nichts Historisches. Das Bild hat seine eigene kleine Geschichte. Das Motiv lag uns zu Füßen im Schlosspark zu Sanssouci, abseits der Statuen und opulenten Gartenanlagen. Am Tag vorher waren wir im Museum Barberini gewesen und hatten uns von den Seerosen Monets kaum trennen können. Und dann dieser Blick …

Rheinsberg – Eine Reiserückblick

vom 14. August 2023

Ich bin nach Rheinsberg gekommen wegen des „kleinen Büchleins“. Da ist man nicht immer gerecht mit den Menschen, die heute in diesem landschaftlich bezaubernd liegenden Ort leben. Wenn mich manche Personen im Schlossmuseum auch sehr an jenen Kastellan im Büchlein erinnerten, wenn mir ein Buchhändler auch durch Übellaunigkeit und seinen Unwillen, über Tucho zu reden, auffiel – was sicher mehr an mir, als an Tucholsky lag – so gibt es in Rheinsberg doch viele nette Menschen.

Das Café Tucholsky war für uns da und es gab dort richtigen Tee. Wunderbar. Im Ratskeller haben wir gerne gespeist und mit den Leuten ein wenig geplauscht. Und Eisessen konnte man in Rheinsberg bei den tropischen Temperaturen auch genüsslich. Wandern in der Mark Brandenburg? Bei der Hitze schwierig. Und wenn es so heiß wird, wie in den vergangenen Sommern, dann hält man es ja auch im Schloss aus.

Kurt Tucholsky – Rheinsberg

vom 13. August 2023

„Rheinsberg – Ein Bilderbuch für Verliebte“. Eine kleine Reisegeschichte. Eine kleine Liebesgeschichte. Eine kleine Sommergeschichte. Ein kleines Büchlein. Und weil es immer klein ist, könnte man denken, es sei nichts Großes. Klein heißt aber eigentlich, dass es in einer Bescheidenheit und Vergnügtheit daherkommt, die ihresgleichen sucht. Typisch Tucholsky ist der Witz mit dem der Autor gern in Worten spielt, in diesem Büchlein sogar zaubert. Das Spiel mit den Dialekten, mit kindlichen Sprachspielereien macht es so vergnüglich, so leicht.

Und doch sind da die kritischen Untertöne, wenn Tucholsky seine Figuren genau beobachtet in ihren kleinen Schwächen. Der Kontrast zwischen dem Liebespaar Gambetta, das unverheiratet unter falschem Namen in den Kurzurlaub nach Rheinsberg (nördlich von Berlin) reist und den gesellschaftlichen Konventionen, die sich im Wesen des Schlosskastellans ausdrücken, ist von feinstem ironischem Humor. Es ist die Fallhöhe zwischen den alten Konventionen des Kaiserreichs, in dem Tucholsky aufwuchs, und den neuen, liberalen Vorstellungen, die nach dem Krieg in die Weimarer Republik führen werden. Eine freie Liebe, ein freierer Umgang zwischen den Geschlechtern, das wird für mich in den Neckereien zwischen Wölfchen und Claire spielerisch skizziert.

Das Buch erschien 1912. Der umgangssprachliche, aber intelligente Ton war bis dahin unüblich in der deutschen Literatur. Er fand aber großen Anklang. Ob es daran lag, das Tucholsky in seiner Berliner „Bücherbar“ zum Literaturkauf geistige Getränke anbot? Er schrieb selbst in der Weltbühne darüber schmunzelnd:

„Die Presse brachte sich um. Die ‚Breslauer Zeitung‘ war dagegen, die ‚Vossische‘ dafür, Prag und Riga verhielten sich neutral – die Ausschnitte sind noch da – und der ‚Sankt Petersburger Herold‘ vom achtzehnten Dezember 1912 schrieb, wer einen Wilde erstehe, der bekäme Whisky Soda, und wer Ibsen kaufte, einen nordischen Korn. Das stimmte aber nicht – wir tranken selber. Und verkauften schrecklich viele ‚Rheinsbergs‘.“

(Kurt Tucholsky, Die Weltbühne, 08.12.1921, Nr. 49)